Ausgabe September 2025

Politik vor Recht: Die Aushöhlung der liberalen Demokratie

Während der Urteilsverkündung des BVG in Karlsruhe. Einige Vertreter:innen eines majoritär-elektoral verkürzten Demokratieverständnisses halten die Bindung der Politik an EU-, Menschen- oder Verfassungsrecht für undemokratisch. Foto vom 18.7. 2012 (IMAGO / Stockhoff)

Bild: Während der Urteilsverkündung des BVG in Karlsruhe. Einige Vertreter:innen eines majoritär-elektoral verkürzten Demokratieverständnisses halten die Bindung der Politik an EU-, Menschen- oder Verfassungsrecht für undemokratisch. Foto vom 18.7. 2012 (IMAGO / Stockhoff)

Als der FPÖ-Chefideologe und heutige Parteivorsitzende Herbert Kickl im Januar 2019 in einem ORF-Interview darauf angesprochen wurde, dass seine Asylpläne an die Grenzen von EU-Recht, Menschenrechtskonvention und Rechtsstaat stoßen, antwortete der damalige österreichische Innenminister, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“. Was seinerzeit einen Skandal verursachte, der Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu der Klarstellung veranlasste, dass die Europäische Menschenrechtskonvention zum Grundkonsens der Zweiten Republik zähle, scheint heute im politischen Zentrum angekommen zu sein. Das zeigte sich etwa an einem im Mai von der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und ihrer italienischen Amtskollegin Giorgia Meloni initiierten und von sieben weiteren EU-Regierungschefs unterzeichneten Papier, das – teils mit denselben Worten wie Kickl – die Zeitgemäßheit der Menschenrechtskonvention und deren Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte infrage stellt.

Die Normalisierung von Forderungen, die noch vor kurzem klar als autoritär und rechtsextrem skandalisierbar waren, wird inzwischen durch eine Publizistik untermauert, die immer enthemmter die Idee der liberalen Demokratie und mit ihr die Bindung von Politik an höherrangiges Menschen- und Verfassungsrecht sowie die es interpretierenden Gerichte zurückweist.

»Blätter«-Ausgabe 9/2025

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (2.00€)
Digitalausgabe kaufen (12.00€)
Druckausgabe kaufen (12.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.

GroKo ohne Alternative: Das Dilemma der Progressiven

von Albrecht von Lucke

Nicht von jeder Koalition lässt sich sagen, dass sie bereits mit dem ersten Tag Historisches „geleistet“ hat. Für die große Koalition, die in Wahrheit längst eine kleine ist, trifft diese Beschreibung jedoch durchaus zu.